Neue Technologien: Wer steuert eigentlich wen?
29.11.2019 | Franziska Stiegler
Neue Technologien können viel: Sie erleichtern uns die Arbeit, optimieren Prozesse und vereinfachen die Kommunikation. So bieten uns Smartphone & Co. im Sekundentakt neue Möglichkeiten des Austauschs. Das lädt zu ständiger Arbeitsbereitschaft ein. Die digitalen Möglichkeiten so zu nutzen, dass sie die Menschen unterstützen und nicht vor sich hertreiben, ist für Organisationen und Mitarbeitende eine Herausforderung. Hohe Fehlzeiten durch psychische Überlastungen und Erkrankungen am Arbeitsplatz sind ein deutliches Symptom, das den Verantwortlichen in den deutschen Chefetagen Anlass gibt, die Organisation digitaler Arbeitsprozesse genau unter die Lupe zu nehmen. Die Gesundheit der Beschäftigten sollte dabei zur zentralen Kennzahl werden.
Technischer Fortschritt führte schon immer zu Reibungen
Ob Dampfmaschine, Eisenbahn oder Telefon – die Anpassung an technische Innovationen und neue Geschwindigkeiten fällt uns Menschen schwer. Bereits im 19. Jahrhundert zeigte sich das an einer ausgeprägten Häufung von Erschöpfungssymptomen. Damals nannte man das Syndrom nur noch nicht Burn Out, sondern Neurasthenie (Nervenschwäche). Mit der Zeit passen wir uns den meisten technischen Innovationen an und nutzen sie in der Regel bald ganz selbstverständlich. Wir integrieren sie in unseren Alltag und entwickeln sie stets weiter. Überrascht zu werden scheinen wir nur immer wieder davon, dass Menschen Zeit und Reflexion brauchen, um Neues zu adaptieren. Die Geschwindigkeit des digitalen Fortschritts treibt uns vor sich her. Das geht zu Lasten der Gesundheit vieler Beschäftigter.
„Aktuell stecken wir mitten in der Adaptionsphase,“ glaubt Franziska Stiegler, Referentin für Psychische Gesundheit am Arbeitsplatz vom BKK Dachverband und verantwortliche Ansprechpartnerin des Projekts psychische Gesundheit in der Arbeitswelt (psyGA). „Aber wir sind lernfähig und mittlerweile ist recht gut erforscht, wie unsere organisationalen Strukturen das auch werden können.“
Digitale Überforderung hat viele Gesichter
Die Stressoren liegen – je nach Arbeitsbereich und Berufsgruppe – an verschiedenen Stellen. Beschäftigte in der Dienstleistungs- und Wissensgesellschaft müssen sich häufig abgrenzen gegen Ablenkungen und Arbeitsunterbrechungen durch akustische wie visuelle Reize. Zudem leiden sie unter der hohen Arbeitsverdichtung, die digitale Technik mit sich bringt. Auch die Einführung neuer Tools führt zu Verunsicherungen:
"Nicht alle Beschäftigten fühlen sich sicher im Umgang mit der Technologie."
Ganz anders sieht es in der Industrie aus. Menschen, die am Fließband arbeiten, fühlen sich fremdbestimmt, wenn Roboter ihre Aufgaben übernehmen und den Takt vorgeben. Das Zusammenspiel von Mensch und neuen Technologien ist oft schlecht geregelt. Läuft etwas nicht nach Plan, werden die Leute am Band zur Verantwortung gezogen. Tatsächlich haben aber auch Maschinen Grenzen. Und Pannen oder Störungen lassen sich wiederum nur mit menschlicher Hilfe beheben. Neben dem Stress, im Vergleich zur Maschine zu versagen, kommt oft die Befürchtung hinzu, nicht mithalten zu können und aussortiert zu werden.
"Die Sorge um den eigenen Arbeitsplatz ist eine der einflussreichsten Belastungen für die psychische Gesundheit."
Wo ist das Problem?
"Es ist in der Regel nicht die Technik, die uns handlungsunfähig und schlimmstenfalls krank macht. Es ist der Umgang damit und die Erwartungshaltung, technische Lösungen führten automatisch zur Perfektion."
Bei allem, was wir technisch neu lernen, schieben wir die Adaptionsschwierigkeiten häufig auf menschliche Baumängel. Dabei geht es vielmehr um die Organisation der Arbeitsbeziehung zwischen Mensch und Maschine und die beginnt mit der Einführung: Bei neuen Technologien zur Prozessoptimierung und Profitmaximierung versäumen es Unternehmen häufig, die eigenen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter frühzeitig in die Auswahl passender Lösungen einzubeziehen. Die sitzen in der Regel an der Schnittstelle und wissen genau, was die neue Technologien leisten soll und welche Anforderungen sie erfüllen muss.
Stattdessen läuft es oft genau anders herum: Betriebe führen eine Software ein und drücken die Implementierung von oben durch. Schwierigkeiten sind vorprogrammiert, wenn die Technik später nicht den gewünschten Effekt bringt und eher neue Probleme verursacht. Das kostet zusätzlich Zeit und Geld. Darüber hinaus birgt ein solches Vorgehen viel Konfliktstoff auf der zwischenmenschlichen Ebene. Mitarbeitende leiden unter mangelnder Wertschätzung, fühlen sich vor den Kopf gestoßen und reagieren frustriert.
Managerbashing hilft dabei wenig. Denn auch Führungskräfte stehen in punkto Digitalisierung vor der Herausforderung, neben dem Kerngeschäft auch den digitalen Wandel im Unternehmen zu schaffen. Das ist anspruchsvoll und kostet Zeit.
Über Mitsprache digitalen Stress verringern
„Es gibt nicht die eine technische Lösung,“ glaubt Franziska Stiegler. „Die Nutzung digitaler Technik ist ein Kernprozess, der nicht abgeschlossen werden kann. Es empfiehlt sich daher, erst die Arbeitsprozesse zu analysieren, die mittels Digitalisierung optimiert werden sollen. Dann sollten Experten aus dem Team hinzugezogen werden, um gemeinsam nach einer sinnvollen technischen Lösung zu suchen. Anschließend sollten Zwischenziele definiert werden, um Erfolge zu überprüfen. Schon in der Planung sind Anpassungsphasen sowie Feedbackschleifen mit Mitarbeitenden wichtig. So entsteht weniger Stress und man beugt Erschöpfungszuständen und Produktionsproblemen rechtzeitig vor. Unternehmen profitieren enorm, indem sie den digitalen Wandel im Betrieb über mehr Mitsprache des Personals gestalten und betriebseigenes Expertenwissen für die Suche nach der passenden Technik nutzen. Gleichzeitig leisten sie so einen wertvollen Beitrag zur Gesundheitsförderung der Beschäftigten.“