Weiterbildung in Zeiten von Corona: Startschuss für die Ära des Neuen Lernens?
13.05.2020 | Christian Friedrich
Corona hat unser (Berufs-)leben von einem Tag auf den anderen stark verändert. Ganze Unternehmen arbeiten im Home Office. Dienstreisen fallen bis auf Weiteres aus, Meetings finden virtuell statt – und auch das Thema Weiterbildung muss anders organisiert werden. Bei all den Herausforderungen, die hier warten und all der berechtigten Sorgen, die die Menschen angesichts der Krise umtreiben:
Bietet die aktuelle Situation nicht auch die Chance, das Thema „Lernen“ neu zu denken und so Unternehmen zukunftssicher aufzustellen?
Und zwar jetzt, aber auch für das „next normal“ nach der Krise?
Bereits im Herbst letzten Jahres durfte ich in einem Gastbeitrag darlegen, warum ich fest davon überzeugt bin, dass das „Lernen auf Vorrat“ in unserer volatilen Welt ausgedient hat. Kurz gesagt: Es entspricht einfach nicht mehr den Ansprüchen unserer agilen, digitalisierten und komplexen Wirtschaft. Was heute erfolgsentscheidend war, ist morgen oft schon überholt. Und Skills, die heute noch immanent wichtig sind, können morgen schon effizienter und auch zuverlässiger von einem KI-basierten Tool übernommen werden oder fallen in Teilen einem digitalisierten Prozess zum Opfer. Ich habe in dem damaligen Beitrag für das sogenannte Neue Lernen plädiert, also für eine ganzheitliche, personalisierte und bedarfsorientierte Weiterentwicklung:
Für Weiterbildung, die Lernen und Anwenden perfekt verzahnt und sowohl informelle als auch formelle Lernformate unterstützt – je nachdem, welches sich thematisch und für den individuellen Bedarf besser eignet.
Die Krise als Katalysator
Damals dachte ich, dass wir vor einem langen, schleichenden Prozess stehen: Nach und nach wird das Neue Lernen zum Standard in Unternehmen. Schließlich zweifelt heute auch niemand mehr daran, ob dieses Internet sich wirklich durchsetzen wird. Doch dann kam Corona – und auf einmal war alles anders. Nicht nur, dass derzeit Präsenzveranstaltungen gar nicht oder nur unter starken Einschränkungen stattfinden können. Auch Themen wie Digitalisierung oder agile Zusammenarbeit sind plötzlich nichts mehr, „was man mal angehen müsste“, sondern werden von heute auf morgen einem Realitätscheck unterzogen. Die oft ungehörten Warnrufe, auch das Thema Weiterbildung neu zu denken, wurden durch Corona wie durch ein Megafon verstärkt. Und auf einmal klappte es: Unternehmen und Anbieter mussten schnell reagieren und analoge Formate sowie Zugänge zu Weiterentwicklung in die digitale Welt transferieren. Das war sicher nicht immer möglich – und manchmal brachte es auch Qualitätsverluste mit sich, etwa weil ein Coaching über Zoom oder Skype immer unpersönlicher sein wird als wenn sich Coach und Coachee gegenübersitzen.
Aber die wesentliche Erkenntnis bleibt: Es funktioniert – und es funktioniert gut!
Ab jetzt also alles digital?
Wie in den meisten Bereichen der Digitalisierung kommt auch beim Lernen die Frage auf, ob die klassische Form der Weiterbildung damit ausgedient hat. Die Antwort ist klar: nein.
Neues Lernen bedeutet eben kein entweder-oder sondern ein sowohl-als-auch.
Denn auch nach der Krise brauchen wir eine bedarfsgerechte und flexible Mischung aus formellen und informellen Lernangeboten sowie analogen und digitalen Formaten. Der Schritt in Richtung Digitalisierung bedeutet auch keineswegs, die Lerninhalte von Präsenzseminare eins zu eins online abzubilden. Am Ende kommt es darauf an, genau zu durchdenken, welches Format für welchen Inhalt am besten geeignet ist und so den Dogmatismus der einzig wahren Lernform zu durchbrechen.
Neues Lernen in 3D
Doch was bedeutet diese Abkehr vom „alten“ Lernen für die Unternehmen?
Kurz gesagt: eine Transformation in allen drei erfolgsrelevanten Dimensionen des Unternehmens: Organisation, Mitarbeiter und Tools.
Auf organisationaler Ebene müssen entsprechende Strukturen, Prozesse und vor allem auch die kulturellen Voraussetzungen geschaffen werden, um das Neue Lernen zu ermöglichen. Denn Neues Lernen bedeutet auch selbstgesteuertes und individualisiertes Lernen und benötigt von daher eine neue Haltung zum Lernen im Unternehmen. Gleichzeitig müssen Mitarbeiter den Willen und die Fähigkeit haben, sich eigenverantwortlich weiterzuentwickeln und selbst auch Wissen weiterzugeben. Und last but not least sind neue Tools erforderlich, um neue Lernräume zu eröffnen und digitale Formate zentral zur Verfügung zu stellen.
Lust am Kontrollverlust: Die neue Rolle der Personalentwicklung und von Führungskräften
Eine besondere Rolle kommt bei diesem Wandel naturgemäß der Personalentwicklung und den Führungskräften zu.
Denn Neues Lernen bedeutet eine deutlich höhere Eigenverantwortung der Mitarbeiter – und damit einen Kontrollverlust für HR und Vorgesetzte.
Bislang wurde das Weiterbildungsangebot im Unternehmen stark durch die Personalabteilung gesteuert: Sie plante und stellte zur Verfügung. Die Digitalisierung ermöglicht aber eine viel größere Individualität. Mitarbeiter können sich in einem Learning Management System oder einer Learning Experience Platform genau die Inhalte suchen, die sie aktuell benötigen, so dass sehr individuelle und situative Bedarfe bedient werden und Mitarbeiter auch gezielt ihre Employability vorantreiben können. Gleichzeitig können sie auch eigenes Wissen teilen – etwa eigene kleine Tutorials. Personalentwicklung und Führungskräften bleibt „nur“ noch die Rolle des Begleiters oder Ermöglichers – ein echter Mindshift und eine neue Balance zwischen Mitarbeitern und HR.
Zeitgemäße Weiterbildung als Erfolgsfaktor für die Zukunft
Der tiefgreifende Wandel mag manche Unternehmen erschrecken. Doch ich bin überzeugt: Wer nach Corona zum gewohnten Status quo zurückkehrt und seine Weiterbildungsmaßnahmen wieder auf ein oder zwei festgelegte Präsensseminare pro Mitarbeiter und Jahr beschränkt, bezahlt diese Entscheidung gleich in zweifacher Hinsicht: Wirtschaftlich mit der Zukunftsfähigkeit des Unternehmens, denn zukunftsfähig bedeutet heute, sich flexibel auf immer neue Herausforderungen und Rahmenbedingungen einzustellen – auch und besonders im Bereich der Weiterbildung. Und, last but not least personell. Denn im „War for Talent“ haben Unternehmen, die nach wie vor daran festhalten, Angebote auf ein spezifisches Format zu beschränken, bereits heute das Nachsehen. Die digitalen Lerngewohnheiten der jungen, gut ausgebildeten Fachkräfte entsprechen kaum mehr der tradierten eindimensionalen Form von Weiterbildung – und sie haben auch keine Lust, ihre Employability für ihren Arbeitgeber aufs Spiel zu setzen.
Wer also beim Lernen auf gewohnte Pfade setzt, wird früher oder später auch in Sachen Recruiting und Retention in gefährliche Schieflage geraten.