Learning Organization – what‘s that?
29.06.2023 | Zukunft Personal
Vor wenigen Wochen haben wir bei der Zukunft Personal einen neuen Themenbereich eingeführt: Innovation – und ihre Auswirkung auf die HR-Arbeit. Eine Grundvoraussetzung für Innovation ist Lernbereitschaft. Daher beschäftigen wir uns im Rahmen des Newsletter-Topics Learning & Development mit kompletten Business-Units, die schon in ihrem Titel mitführen, was ihr Anspruch und ihr Ziel ist: den Learning Organizations. Neun Fragen, neun Antworten dazu von Dr. Timo Holm, Head of Learning Organization bei Siemens, Digital Industries, Factory Automation.
Welche Grundidee steht hinter dem Unit-Namen Learning Organization?
Timo: Dahinter steht die Idee von der Lernenden Organisation, die in den 90er Jahren von einer Gruppe von Wissenschaftlern rund um Peter Senge entstand. Senge definierte die Learning Organization als Gruppe von Menschen, die ihre kollektiven Fähigkeiten erweitern, um Ergebnisse zu kreieren, die ihnen wichtig sind. Darin steckt schon, dass es sich nicht notwendigerweise um ein Unternehmen handeln muss – meistens ist das aber natürlich so. Das Thema Purpose steckt in dem letzten Teil drin, und kollektive Fähigkeiten deutet darauf hin, dass Personal Mastery nicht ausreichend ist, um eine ganze Organisation schnell und wirksam zu machen. In seinem Buch „The fifth discipline“ beschreibt Senge das Konzept sehr gut, aber auch sehr theoretisch. Heute würde man vielleicht von einer agilen oder adaptiven Organisation sprechen. Persönlich nutze ich gern Netflix als externes Beispiel, weil sie in sehr kurzer Zeit ihr eigenes Geschäft disruptieren konnten und sich neue organisatorische Fähigkeiten entwickeln mussten.
Wie ist das Selbstverständnis in dieser Hinsicht?
Timo: Unsere Orga-Einheit Learning Organization unterstützt unsere Geschäftssegmente und Funktionen dabei, diese Reise hin zu einer lernenden, adaptiven Organisation zu meistern. Ein großer Teil dieser Arbeit würde man heute als Organisationsentwicklung oder Organisationsdesign bezeichnen. Wir nennen diese Kolleg:innen bei uns Coaches. Sie wirken auf allen hierarchischen Ebenen und von der Strategieentfaltung über die Portfolioarbeit bis hin zu den Prozessen der Kundenwertgenerierung. Aber auch wichtige Themen wie Kulturarbeit und Organisatorisches Lernen werden von diesen Coaches unterstützt – durch Interventionen, die mal größer und mal kleiner ausfallen.
Wie agiert der Bereich Learning Organization im Gegensatz zu einer klassischen HR-Abteilung?
Timo: Die einfache Antwort darauf ist vielleicht das Denken in Systemen, im Englischen auch Systems Thinking genannt. Dahinter steckt die Idee, dass in einem komplexen System jede vermeintliche Lösung eines Problems einen nicht-intendierten Nebeneffekt hat. Diese Nebeneffekte kann man bis zu einem gewissen Grad antizipieren, aber nicht wirklich. Organisationswissenschaftler:innen sprechen von komplexen, adaptiven Systemen, in denen man situativ vorgeht – nach dem Ansatz „Probe, Sense, Respond“. Man versucht gewollte Veränderungen herbeizuführen und erspürt dann, ob zusätzlich zu den erwünschten Effekten auch diese Nebeneffekte eintreten, auf die man dann reagieren muss. In der Praxis lösen wir das durch die Anwendung des agilen Prinzips „Inspect & Adapt“ im Organisationsumfeld, sogenannte Organisationsexperimente. Das erfordert eine zeitintensive Beschäftigung und Begleitung durch Coaches. Wir gehen kapazitiv von 0,1–0,5 % der zu betreuenden Organisation an Vollzeit-Coaches aus, zusätzlich zu den klassischen HR-Themen wie zum Beispiel Recruiting und Corporate Learning.
Was sind die größten Hürden und Herausforderungen, um das Lernen als feste Größe zu etablieren – gerade in einer so großen und für Siemens existenziellen Sparte wie den Digital Industries, Factory Automation?
Timo: Die größte Hürde ist es sicherlich, sich Zeit für die wichtigen Themen der persönlichen und organisatorischen Potenzialentfaltung zu nehmen. Weil die dringenden Topics rund um die Kundenwertgenerierung und Kundenbereitstellung im Zweifel Aufmerksamkeit auf sich ziehen und einfach gewinnen. Was helfen kann, ist neben einer Kultur, die Lernen fördert, etwa mit entsprechenden Werten, Vorbildern und Zeremonien, auch die langfristigen strategischen Ziele und Zwischenschritte dahin transparent zu machen. So können alle Mitarbeiter:innen und auch alle Team abwägen, was ein Lern-Invest zukünftig wert sein wird oder nicht.
Vor drei Jahren ist Eure Unit gestartet. Was ist heute das Ergebnis der neuen Strategie?
Timo: Meine Führungskraft, unser CEO oder unser CFO wären da sicherlich die objektiveren Ansprechpartner. Tatsächlich ist es aber gar nicht so, dass wir erst vor drei Jahren gestartet sind. Es war nur der Schritt, all die Menschen in unserer Organisation aufbauorganisatorisch zusammenzubringen, die in diesem Feld dezentral unterwegs waren. Vor allem mit der Intention, das Kompetenzfeld des Organisationsdesigns oder der Organisationsentwicklung schnell für uns zu erschließen. Wie die meisten Großkonzerne hatten wir vorher auch schon Lean Programme, insbesondere Lean Software Development, und agile Transformationen durchgeführt. Damit war die Basis gelegt für diesen nächsten Schritt. Und als dann Themen wie Empowerment und Purpose unternehmensweit zu Programmen wurden, war der Nährboden noch besser. Da haben wir den Kolleg:innen viel zu verdanken – wir stehen auf den Schultern von Giganten.
Gibt es bereits vielversprechende Outcomes? Was sind die Learnings?
Timo: Learnings sind in so einer Transformationsreise zwar teilbar, aber selten nützlich, weil sie zu stark vom Kontext abhängen. Von wo springt eine Organisation ab? Welche Rolle und Position nehmen CFOs oder CEOs ein? Steht die Organisation an einer Wand und hat einen hohen Sense of Urgency? Geht es ihr gut? Oder zu gut für Change? Das alles sind kontextuelle Parameter, die man eigentlich teilen muss, um Learnings sinnvoll zu rahmen. Vielversprechende Outcomes hingegen gibt es schon viele. Zum Beispiel die Selbstverständlichkeit, mit der wir im Kleinen wie im Großen experimentieren. Speziell interne Start-ups sind größere Aktivitäten, die mir hier einfallen. Das war früher besonders im Großen ein echter organisatorischer Kraftakt mit sehr limitierter Bandbreite. Was sich auch geändert hat, ist die Professionalisierung der Kompetenzentwicklung. Heute ertrinken wir fast in einem Meer von Learning-Nuggets und Web-based Trainings. Das Kuratieren entlang der Strategie hat uns da sehr geholfen. Außerdem wurden kompetente und dedizierte Ansprechpartner:innen bekannt gemacht, die man mit Fragen zur Kompetenzentwicklung löchern darf. Diese qualitative Arbeit schlägt sich später auch in quantitativen Metriken nieder.
Was meinen die Teams? Und was das Management?
Wir erheben regelmäßig Nutzerbefragungen im Rahmen von akademischen Abschlussarbeiten. Daraus wissen wir, dass das niederschwellige Angebot von Hilfe bei Orga-Entwicklungsthemen durch die Bank wertgeschätzt wird, sei es in Form von Coaching-Kapazität, Lernangeboten oder Events wie OpenSpaces. Es ist tatsächlich auch bisher kein signifikanter Gewöhnungseffekt erkennbar. Wir sehen aber durchaus, dass beispielsweise nicht alle Formate gleich gut bei allen Stakeholdern ankommen. Der Köder muss dem Fisch schmecken und nicht dem Angler. Wir selbst als Orga-Design-Begeisterte sind nicht immer ganz objektiv. Umso wichtiger ist es, kontinuierlich den Kunden zu befragen. Und was das Management betrifft, berichte ich immer gern von einem unserer Segmentleiter. Er leitet inzwischen sogar seine eigene Business Unit, weil er sehr geschickt seiner Rolle als Vorbild gerecht geworden ist. Man muss wissen, dass die Anzahl der persönlichen Lernstunden bei uns als Teil eines Widgets auf der Browser-Startseite angezeigt wird. Dieser Kollege hatte in einem besonderen Jahr schnell die Schallmauer von 100 digitalen Lernstunden geknackt. Man kann sich vorstellen, dass die Diskussion sofort auf das Thema Personal Mastery gelenkt wurde, sobald er seinen Bildschirm auf dem Projektor oder in einem virtuellen Meeting geteilt hatte. Das war für ihn eine Steilvorlage, um zu berichten, was er gelernt hat, warum es notwendig war und dass er alle Mitarbeiter:innen empowert und ermutigt, es ihm nachzumachen. Ganz nebenbei hat er Teile der Strategie, die zugehörigen Technologien und Geschäftsmodelle platziert und ihnen auch noch mal Bedeutung gegeben.
Wie schafft es die Learning Organization selbst, offen und lernend zu bleiben?
Timo: Ich glaube das Wichtigste ist es, Zeit und Kontext dafür zu haben. Als Teil unserer Rahmung haben wir von Anfang an gesagt, dass unsere Coaches sich zu 80 % ihrer Zeit dem Kunden widmen und 20 % ihrer Zeit für Lernen und Organisation einsetzen sollen. Schließlich ging es darum, schnell die notwendigen Kompetenzen zu entwickeln, um die Organisation unterstützen zu können. Zeremoniell gibt es das Format „LRN-lern-Lernen“, liebevoll auch der Lernfreitag genannt, wo wir miteinander und voneinander lernen. Da werden manchmal Bücher vorgestellt, manchmal Abschlussarbeiten, aber auch praktische Erfahrungen ausgetauscht, die man beim Kunden gewonnen hat. Es gibt auch ein wöchentliches Obeya-Meeting, wo wir alle zusammenkommen und mit viel Struktur in hohem Tempo informieren, uns austauschen und so manchen Erfolg feiern. Für die eigene Organisationsentwicklung nutzen wir seit einem Jahr Lego Serious Play. Wir schnappen uns ein Problem, dass wir bei uns wahrgenommen haben, und erarbeiten spielend eine mögliche Lösung. Auch beteiligen wir uns aktiv an externen und internen Konferenzen und haben unsere interne Fellowship mit einer jährlichen Konferenz. Dort kommen alle Experten, SCRUM-Master, Coaches, Learning Officer, Transition Coordinators und Line Coordinators, Culture Ambassadors und viele weitere Gruppen zusammen, um gemeinsam an ihrer Kompetenz zu arbeiten.