Experten werden überbewertet: Generalisten sind erfolgreicher als Spezialisten

04.12.2019 | Daniel Rettig

Generalisten sind erfolgreicher als Spezialisten
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Anfang der Neunzigerjahre hatte IBM ein Problem. Der amerikanische Traditionskonzern machte erstmals Verluste, die Umsätze sanken ebenso wie der Aktienkurs. Es kam, wie es immer kommt in solchen Situationen: Zuerst mussten einfache Angestellte gehen, dann der Chef. Doch anstatt der Tradition zu folgen und erneut einen internen Kandidaten zum CEO zu küren, machte das Kontrollgremium dieses Mal alles anders – und betraute einen ehemaligen Unternehmensberater, Kreditkartenexperten und Keksverkäufer mit der Aufgabe, den damals weltgrößten Computerkonzern wieder auf Kurs zu bringen: Louis Gerstner, einst Berater bei McKinsey, Top-Manager bei American Express und zuletzt Chef des Nahrungsmittelkonzerns RJR Nabisco.

Ein Risiko? Könnte man meinen, immerhin hatte Gerstner keine Expertise im Technologiesektor. Tatsächlich jedoch erkannte der Branchenneuling, dass das Betreuen von Hardware lukrativer ist als deren Produktion und Verkauf. Also leitete er den Kurswechsel ein und verwandelte das Unternehmen vom Hard- und Softwareanbieter zum Dienstleister in Technologieberatung und Systemintegration.

Ist Gerstner, der Generalist, nur eine große Ausnahme?

Diesen Eindruck konnte man in den vergangenen Jahren durchaus gewinnen. In Zeiten des Fachkräftemangels betonen Arbeitsmarktexperten in schöner Regelmäßigkeit, wie wichtig die Fokussierung, Individualisierung und Spezialisierung ist. Das Erfolgsrezept der Unternehmen – Sei ein König in der Nische! – soll angeblich ebenfalls für Arbeitnehmer gelten, egal, ob Freiberufler oder Angestellter.

"Wer ist besser dran: Der Generalist, der sich in vielen Branchen gut auskennt, oder der Spezialist, der sich in seiner Nische auskennt wie kein Zweiter?"

Aber wer ist wirklich besser dran – der Generalist, der sich in vielen Branchen gut auskennt, aber in keiner davon herausragend? Oder der Spezialist, der sich in seiner Nische auskennt wie kein Zweiter, jedoch in keiner anderen?

Cláudia Custódio hat dazu eine klare Meinung.

Die außerordentliche Professorin für Finanzwirtschaft am Imperial College in London hat eine Reihe von Studien (Cláudia Custódio et al (2019). Do general managerial skills spur innovation? In: Management Science, Band 65, Ausgabe 2, Seite 459-476) veröffentlicht, die das Dogma der Spezialisierung als Mythos entlarven. Dafür entwickelte sie den General Ability Index (GAI), der sich aus fünf Kategorien speist: Wie viele unterschiedliche Positionen ein Manager im Laufe seines Berufslebens schon bekleidet hat; wie viele Arbeitgeber er hatte; in wie vielen Branchen er tätig war; ob er schon einmal bei einer anderen Firma Vorstandschef war, noch dazu in einem Großkonzern mit verschiedenen Einheiten.

Vor einigen Jahren untersuchte die Professorin, ob ein Zusammenhang besteht zwischen der Erfahrung des Vorstandschefs und dem Innovationsgrad des Unternehmens. Und siehe da: Wer von einem CEO mit breitem Erfahrungshorizont geführt wurde, war wesentlich innovativer. Außerdem stellte Custódio fest: Die Patente wurden wesentlich häufiger von anderen zitiert – ein kleines, aber dennoch feines Indiz für ihre Durchschlagskraft.

Die Innovationsforscherin vermutet: Die Erfahrung aus vielen verschiedenen Bereichen führt zu einer ganz besonderen Mischung aus Gelassenheit, Risikobereitschaft, Wissen und Scharfsinn. Eigenschaften also, die beim Umgang mit traditionell unsicheren Innovationen durchaus hilfreich sind. Man könnte auch sagen: Wer viel gesehen hat, lässt sich nicht mehr so schnell irritieren. Und das macht sich sogar auf dem Konto bemerkbar. Darauf deutet zumindest eine weitere Studie (Cláudia Custódio et al (2013). Generalists versus specialists: Lifetime work experience and chief executive officer pay. In: Journal of Financial Economics, Band 108, Seite 471-492) von Custódio hin. Dieses Mal verglich sie die Gehälter von etwa 4500 US-CEOs: Die Generalisten wurden besser bezahlt als die Spezialisten.

Anscheinend sind Generalisten völlig zu Unrecht schlecht beleumundet.

Sie sind nicht nur anpassungsfähig, sondern auch flexibel und lernbereit. Und sie vermeiden die typischen Gefahren der Spezialisierung: Eine Garantie, dass die Nische lukrativ ist, gibt es nicht. Und wer immer nur durch den Tunnel fährt, übersieht die schönen Blumen am Wegesrand. Anscheinend hat es messbare Vorteile, alles ein bisschen zu können, aber nichts davon richtig – für die Menschen ebenso wie für ihre Arbeitgeber.

Über den Autoren

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Der Text ist ein Auszug aus dem aktuellen ada-Magazin und dem gerade erschienenen Buch „Warum Perfektion sinnlos ist …“ (Campus Verlag). Darin beschreibt ada-Redaktionsleiter Daniel Rettig 77 wissenschaftlich erforschte Wahrheiten aus der Jobwelt.

Daniel Rettig ist seit Mai 2019 Redaktionsleiter von ada. Zuvor arbeitete er knapp elf Jahre lang bei der WirtschaftsWoche im Ressort Erfolg, die letzten drei Jahre als Ressortleiter. Außerdem schrieb er mehrere Bücher, u.a. „Ich denke, also spinn ich“ (2011), „Die guten alten Zeiten“ (2013) und „Warum Perfektion sinnlos ist“ (2019) und moderierte zahlreiche Veranstaltungen für die WirtschaftsWoche.