Präsenz vs. Remote: Können Online-Workshops & Online-Coachings den traditionellen Präsenzformaten Paroli bieten?
21.07.3020 | Jurek Mähler
„Hallo, hört Ihr mich?“ – so lautet seit dem Social Distancing nicht selten der erste Satz zu Beginn von Online-Begegnungen in beruflichen oder privaten Gruppentreffen. Technische Probleme wie eine schlechte Verbindung oder eine nervige Rückkopplung bei solchen Verabredungen werden vielen bekannt sein. Ganz zu schweigen von der besonderen Gesprächsdynamik, die sich allein dadurch ergibt, dass nur eine einzelne Person reden kann. In der Arbeitswelt werden nicht nur Teambesprechungen, sondern Workshops und sogar Coachings verstärkt online (remote) durchgeführt. Da diese Umstände für viele von uns neu sind und ich mir die Frage gestellt habe, ob Online-Workshops & Online-Coachings den traditionellen Präsenzformaten Paroli bieten können, habe ich Rainer Krüger dazu ein paar Fragen gestellt. Rainer ist Coach & Berater und seit einigen Jahren erfolgreich "remote" unterwegs.
Wie muss man sich den Ablauf einer erfolgreichen Remote-Veranstaltungen vorstellen?
Vom Ablauf her betrachtet unterscheiden sich Remote- und Präsenz-Veranstaltungen nicht wesentlich voneinander: Es gibt eine Ankommens- oder Einstiegsphase, anschließend eine längere Bearbeitungsphase, die entsprechend des Themas und der Zielsetzungen möglichst interaktiv und kollaborativ gestaltet ist. Am Ende der Veranstaltung sollte es einen Ausklang oder eine Abrundung mit weiteren Angeboten oder einem Ausblick für einen Transfer der Inhalte in den beruflichen Kontext geben. Wichtig ist, dass man die Pausenzeiten anpasst, da Remote-Veranstaltungen häufig als besonders anstrengend empfunden werden.
Wir haben jedoch durch die Konferenztechniken und Online-Tools zusätzliche Möglichkeiten, zwischen synchronen und asynchronen Arbeitsphasen zu wechseln. Einstieg und Ende eines Remote-Workshops werden meist synchron - also live und online – in der Gesamtgruppe durchgeführt. Asynchrone Arbeitsphasen, in denen die Teilnehmenden nach eigener Zeitstruktur alleine oder in Kleingruppen arbeiten, könnten zum Beispiel als Vorbereitung vor Beginn einer Remote-Veranstaltung gesetzt werden oder als intensive Arbeitsphase zwischen den Live-Gruppenphasen bei längeren Veranstaltungen. Ein Wechsel des „Settings“ wird meist als effektiv und motivierend empfunden – aber auch das kennen wir ja aus Präsenz-Veranstaltungen.
Wie kann sichergestellt werden, dass die Teilnehmenden sich aktiv beteiligen und am Ende auch „etwas mitnehmen“?
Die Erfolgsfaktoren für eine aktive Beteiligung sind uns von Präsenz-Veranstaltung her bekannt. Ich möchte die drei wichtigsten Faktoren aus meiner Sicht hervorheben:
1. Der Aufbau einer vertrauensvollen Arbeitsatmosphäre ist möglich und wird aktiv unterstützt.
2. Die Teilnehmenden können sich autonom – also selbstbestimmt und selbstgesteuert – einbringen.
3. Die Fachinhalte werden als relevant und die Anforderungen als persönlich leistbar betrachtet.
Kurzum: Alle fühlen sich angemessen wohl in der Remote-Gruppe und eine Mitwirkung wird persönlich als sinnvoll erachtet. Ein wichtiger Rahmenfaktor ist natürlich die Gruppengröße und auch hier ist es wie bei einem Präsenz-Workshop: Je kleiner die Arbeitsgruppe, umso besser können sich die Teilnehmenden einbringen, aktiv mitarbeiten und etwas mitnehmen. Dazu nutze ich eine „Daumenregel“: Alle Teilnehmenden sollten sich auf dem Computerbildschirm gleichzeitig mit ihren Videobildern sehen können – so wie bei einem Sitzkreis in einem Präsenz-Workshop.
Gibt es schon bewährte Methoden für Remote-Workshops?
Welche Methoden als bewährt betrachtet werden, hängt natürlich sehr von den eigenen Vorlieben ab. Ich bevorzuge in Remote-Workshops besonders die Kleingruppenarbeit, die z.B. bei dem Videokonferenztool Zoom „Breakout-Sessions“ heißen. Die Kleingruppen können extrem schnell entweder zufällig oder vorher festgelegt besetzt werden. Der organisatorische und zeitliche Aufwand ist also wesentlich niedriger als bei Präsenz-Veranstaltungen und niemand kann auf dem virtuellen Weg zum Gruppenraum verloren gehen. Und die Teilnehmenden halten sich an die Zeitvorgaben für die Kleingruppenarbeit – ok, das machen sie natürlich zwangsläufig, denn das System gestattet keine Ausnahmen. Aber gerade die zufällige Aufteilung der Kleingruppen ist nach meiner Einschätzung besonders hilfreich für die aktivierende Gruppendynamik und das gegenseitige Kennenlernen der Teilnehmenden.
Bei allen Remote-Methoden sollte man immer auf eine möglichst hohe Interaktivität achten. Das gelingt dann besser, wenn die Kameras eingeschaltet bleiben – und auch die Mikrofone, wenn es keine Nebengeräusche bei den Teilnehmenden gibt. Weiterhin ist der Chat eine wunderbare Option, sich jederzeit einbringen zu können. So wird manche Einzelfrage unter den Teilnehmenden selbstständig geklärt.
Ein großer Mehrwert von Videokonferenzsystemen besteht darin, dass Inhalte, Bilder oder Grafiken über die Funktion „Bildschirm freigeben“ sehr gut präsentiert und schriftlich kommentiert werden können. Das digitale Protokoll einer Remote-Sitzung ist so sehr schnell erledigt, da auch der Chat als Textdatei gespeichert werden kann.
Remote-Methoden haben aber auch ihre Grenzen: Da wir uns körperlich nicht berühren können, sind bestimmte interaktive Übungen oder Bewegungsspiele in der Gruppe nicht möglich. Aber auch hier ist Phantasie gefragt: Das Zuwerfen eines virtuellen Balles kann interaktiv und körperlich betont auch in einem virtuellen Stuhlkreis durchgeführt werden.
Wie sehr leidet die Qualität solcher Remote-Termine?
Natürlich sind Qualitätseinbußen auch bei Remote-Veranstaltungen möglich. Zum Beispiel durch das Ausschalten von Kamera und Mikrofon sind manche Teilnehmende auch mental „abgeschaltet“. Und es gibt noch weitere „Exit“-Möglichkeiten in Remote-Terminen, wenn Teilnehmende zeitgleich ihre Mails bearbeiten, anderen Nebentätigkeiten nachgehen oder auch technische Schwierigkeiten für ihren persönlichen „Exit“ nutzen. Das ist in in Präsenz-Veranstaltungen natürlich nicht so einfach möglich.
Aber ich sehe noch einen anderen psychologisch begründeten Nachteil: In Remote-Workshops können wir uns nicht als ganze Person zeigen und uns gegenseitig mit allen Sinnen – zeitgleich und im selben Raum – wahrnehmen. Genau das schafft aber eine zwischenmenschliche Nähe und eine echte Verbundenheit – das ist für mich eine wichtige Voraussetzung für Verbindlichkeit in der Kollaboration und bei der Umsetzung von Vereinbarungen. Wir sollten also bei Remote-Veranstaltungen besonders aufmerksam sein, um Commitment und Verbindlichkeit herzustellen.
Ein anderes Thema sind Coaching-Termine. Welchen Unterschied macht es für den Coachee, ob ein Coaching persönlich oder beispielsweise über einen Video-Call stattfindet?
Auch ein Remote- oder Online-Coaching ist natürlich höchst persönlich und durch die Kamera auch eine „face-to-face“ Begegnung. Nach meinen Erfahrungen kann ein Online-Coaching genauso effektiv, zielorientiert und klientenzentriert gestaltet werden wie ein Präsenz-Coaching. Gerade das remote durchgeführte Business-Coaching bietet zahlreiche zusätzliche Optionen und Vorteile: Es fallen keine Reisezeiten und -kosten an, auch können die Coaching-Termine sehr viel schneller organisiert werden, so dass ein „Coaching on demand“ möglich ist, was für viele Führungskräfte besonders attraktiv ist.
Ich nutze für das Online-Coaching die professionelle Coaching-Plattform CAI-World, die weitere nützliche Optionen bietet. Das Online-Coaching wird in einem vorbereiteten Coaching-Raum mit Kamera und Audio durchgeführt und wir nutzen dabei spezielle Coaching-Tools zur Bearbeitung der Anliegen und Themen. Alle Bearbeitungsprozesse und Ergebnisse werden visualisiert und dokumentiert. Das alles ist auch noch viele Monate nach Abschluss des Coachings für meine Coachees zugänglich. Auch können meine Coachees die Coaching-Plattform jederzeit auch zwischen den Online-Sitzungen zum Selbstcoaching oder für die Bearbeitung spezieller Fragestellungen nutzen, ohne dass ich selbst als Coach online sein muss. Man kann sich das so vorstellen, als würde ich jedem Coachee einen Schlüssel zu meinem Coaching-Raum geben und sie könnten jederzeit alle Coaching-Tools nutzen und an den von ihnen beschriebenen Flipcharts und Whiteboards weiterarbeiten.
Werden auch nach der Corona-Krise noch virtuelle Coachings stattfinden? Welche Zielgruppe könnte hiervon profitieren?
Ich nutze den Begriff „virtuelles Coaching“ nicht so gerne, denn virtuell ist nur der Coaching-Raum, das Coaching selbst ist auch online sehr real. Das Remote- oder Online-Coaching hatte schon vor Corona eine wachsende Fan-Gemeinde. Aktuell gibt es natürlich einen extremen Schub für alle Remote-Veranstaltungen, so auch für das Online-Coaching. Ich bin mir aber sicher, dass dadurch das Präsenz-Coaching keineswegs abgeschafft wird. Das hat sicherlich auch damit zu tun, dass viele meiner Coaching-Kolleg*innen aus den verschiedensten Gründen nicht bereit oder vielleicht auch nicht ausreichend offen sind für ein Online-Coaching. Obwohl ich auch immer wieder von einigen Online-Newbies höre, dass sie mit dem Online-Coaching unerwartet positive Erfahrungen gemacht haben. Davon unabhängig erfordern bestimmte Coaching-Anliegen eine starke physische Präsenz sowie eine mentale Fokussierung, die ich durch einen Ortswechsel und eine damit verbundenen Anreise ggf. besser herstellen kann. Ich denke, dass sich im Business-Coaching zukünftig ein spannender Mix aus Remote- und Präsenz-Sitzungen durchsetzen wird – ganz nach dem Bedarf der Zielgruppe.
Von einem zunehmenden Angebot an Online-Coachings werden diejenigen profitieren, die selbst remote arbeiten und eine zeitliche und räumliche Flexibilität zu schätzen wissen. Nach meiner Einschätzung sind dies vor allem die Menschen der Generation Y, die sich in der VUCA-Welt beruflich bewegen und persönlich und professionell weiterentwickeln wollen.
Vielen Dank an Rainer für das Interview!